Der Mensch macht eine Mauer. Die Mauer gibt ihm die Fläche. Die Fläche ist das Urmittel, das erste elementare Mittel der Malerei. Nach dem Kriege fertigte ich einfache Bilder, ausgehend von der Wand, von der Mauer. Teile waren darin reliefartig erhöht, andere waren flächig. Ich nannte diese Bilder 'Mauerbilder'. ... Ich dachte mir eine damals noch nicht vorhandene neue Architektur als Träger dieser Mauerbilder, die aus den elementaren Mitteln gebildet waren.
So schrieb Willi Baumeister 1934 in einem Manuskript für Eduardo Westerdahls Monografie über eine zehn Jahre zurückliegende Ausdrucksform, die er dennoch nie ganz aus den Augen verlor, weil nahezu sein gesamtes Schaffen auf dem Prinzip der Fläche, der Einfachheit und der Ursprünglichkeit aufbaute. Die Anfänge der Mauerbilder liegen im Jahr 1919 - unmittelbar nach Baumeisters Rückkehr aus dem Ersten Weltkrieg. Neben den Mauerbildern gehören auch Köpfe, einige Flächenkompositionen sowie weitere Figurenbilder zu diesem bedeutenden Werkabschnitt, der die Jahre bis etwa 1923/24 kennzeichnet. Geschult an einem neuen Formverständnis, das in Stuttgart von Adolf Hölzel gelehrt und vielen seiner Schüler verbreitet wurde, erfand Baumeister eine Darstellungsform, die nicht nur sein künstlerischer Anfang, sondern zugleich auch der Durchbruch des Dreißigjährigen war. Mehr noch: mit diesen Arbeiten erreichte er aus dem Stand internationale Beachtung und legte die Basis für eine 35-jährige Fortentwicklung der abstrakten Malerei.
Ausstellungen mit internationaler Beachtung
Im März 1922 stellte der noch junge Künstler gemeinsam mit Fernand Léger in Herwarth Waldens Berliner Galerie "Der Sturm" aus. Im selben Jahr war er in einer Einzelausstellung in Hannover zu sehen und wurde zudem in einem Artikel der von Le Corbusier und Amédée Ozenfant herausgegebenen französischen Zeitschrift "L'Esprit Nouveau" vorgestellt:
Wenn die Arbeit Willy Baumeisters hier einen speziellen Artikel verdient, so deshalb, weil dieser Künstler sich ernsthaft um Klarheit bemüht. Kein Zug von Sentimentalität ist in seinen Tafel- und "Mauerbildern". Rechte Winkel und Flächen sind allein die Mittel des Ausdrucks. Seine Nüchternheit und klare Bildorganisation macht ihm Ehre. Umgeben von Vorurteilen, die den besten unter den französischen Malern und Architekten zuwider sind, bemüht er sich darum, Mauern mit Geist zu versehen und Oberflächen zum Leben zu erwecken. (Übersetzung nach Katalog Berlin Nationalgalerie 1989 sowie durch die Red.)
Für die erste Ausstellung des Deutschen Werkbunds in Stuttgart im Frühjahr 1922 hatte Baumeister erstmals drei Mauerbilder ausgeführt, die in die Ausstellungsarchitektur des Architekten Richard Döcker (1894-1968) direkt eingelassen waren. Für den Kritiker des "Stuttgarter Neuen Tagblatts" war das Zusammenspiel von Architektur und Malerei "die künstlerische Tat der Ausstellung" (5.4.1922). Die viel beachtete Zusammenarbeit dieser beiden Künstler wiederholte sich 1924 bei der gleichnamigen Ausstellung in Stuttgart.
Schon 1921 waren die Mauerbilder erstmals in einer Kunstzeitschrift vorgestellt worden. Der "Kunstblatt"-Kritiker Paul F. Schmidt hatte Baumeisters Kunst als "natürliche Reaktion auf die Fessellosigkeit des Expressionismus" gewertet. Und auch der Stuttgarter K.K.Düssel sprach 1922 von "Klarheit, Prägnanz und formaler Abgeschlossenheit". In der Öffentlichkeit wurden die Mauerbilder als Ausdruck für eine neue - verfestigte - Kulturepoche empfunden, was nach dem Krieg mehr als verständlich scheint.
Organismus und Gesetz: Der Weg zum Mauerbild
Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich Willi Baumeister in seinen frühen Arbeiten um Klarheit der Form und Darstellung bemüht. Inspiriert vom Kubismus und Paul Cézanne, aber auch unter dem Eindruck Adolf Hölzels, reduzierte er seit 1910 den Natureindruck zusehends auf einfache und flächige Grundformen, wie Kreis, Oval und Rechteck, und eliminierte nach und nach alles, was Raumillusion und Scheinperspektive erzeugte.
1919 nahm Baumeister diese Tendenz in den Mauerbildern sofort wieder auf. Das Primat der Fläche führte konsequenterweise zum unmittelbaren Bezug zur Architektur und schließlich - bei den beiden Werkbund-Ausstellungen 1922 und 1924 - zur Integration in die Wand. Doch abgesehen von diesen speziellen Lösungen, blieben die Mauerbilder stets beweglich. Es handelte sich nicht um Wandreliefs oder Fresken, denn ihre Komposition und formale Ausbildung war - wie es Baumeister ja 1934 formulierte - zwar auf die Wand und damit die Fläche bezogen, aber nicht an eine bestimmte Wand gebunden.
Mit den Themen "Wand" und "Elementare Mittel" hatte sich bereits der Hölzel-Kreis intensiv beschäftigt. Ida Kerkovius, Johannes Itten, Hermann Stenner, Oskar Schlemmer, Willi Baumeister und andere umspielten auch das Thema der menschlichen Figur immer wieder, doch stets mit dem Ziel, den ihrer Meinung nach falschen Illusionismus der naturalistischen Darstellung zu überwinden. Damit sind die Mauerbilder in Baumeisters Oeuvre beispielhaft für die 1920er Jahre. Der Künstler arbeitete nicht mit Figurationen (wie er es später um 1930 kurzzeitig tat und wieder verwarf), sondern mit visuellen Bausteinen, die mit Figuren und auch Maschinen zu tun haben. Die Mauerbilder besaßen keine Abbildfunktion mehr.
Mit den Gemälden der frühen Zwanziger Jahre wollte Baumeister "fundamentale Gesetzmäßigkeiten" (Will Grohmann) der Kunst und insbesondere der menschlichen Gestalt zum Ausdruck bringen - besser noch herausarbeiten. Auch hierin ist die Nähe zum Kubismus, zu Cézanne und zu Hölzel deutlich zu erkennen, denn in den Mauerbildern arbeitete Baumeister mit geometrischen Mustern, mit Farben und Flächen, deren Kontraste und Durchdringungen, mit betont materialhaften Oberflächenstrukturen, Rhythmen und Spannungen. Das Ursprüngliche hinter der zufälligen Erscheinung darstellen zu können, war Baumeisters Ziel. Daher trifft Grohmann ins Schwarze, wenn er die Mauerbilder als "Gesetzestafeln der Kunst" bezeichnet.
Versachlichung und Synthese
Deutlich zeigte sich in Baumeisters Arbeiten dieser Jahre nicht nur eine Tendenz zur Versachlichung und Ent-Emotionalisierung der Kunst, sondern auch eine Neuorientierung hin zur Verknüpfung der einst getrennten Künste. Wie Baumeister selbst in verschiedenen Zusammenhängen hervorhob, war die Trennung von freier und angewandter Kunst für ihn bedeutungslos geworden (Vgl. hierzu Typografie und Frankfurter Professur.)
Bild und Wand - Bild und Architektur - Bild und Raum - und letztlich: Bild und Umwelt! Das waren auch die Schlagworte des Werkbundes und der Bauhaus-Künstler, mit denen er in engem Kontakt stand. Die Mauerbilder Baumeisters waren nie nur ein künstlerisch-formaler Akt, sondern stets auch ein Bekenntnis zur Einbeziehung der Kunst in den Alltag.
Architektur in "Boomtown" Stuttgart
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Situation in seiner Heimatstadt Stuttgart unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Die Stadt war seit den 1880er Jahren in einem rasanten Wachstum begriffen. Die Themen Bauen und Wohnen waren wichtige Faktoren im öffentlichen Leben. Hinzu kam, dass der neue Hauptbahnhof (Architekten: Bonatz & Scholer, 1914-22) in Betrieb genommen wurde und die mitten in der Stadt gelegenen alten Gleisflächen einer neuen Bestimmung zugeführt werden sollten. Nicht nur auf der Bahnhofs-Baustelle, sondern auch auf dem freigewordenen Gelände bestimmten zwischen 1919 und 1927 Maschinen und arbeitende Menschen das Bild. "Mensch und Maschine" wurde auch eines der Themen für Willi Baumeister, "Kunst und Handwerk" ein weiteres. Neubauten und ungesehene Betriebsamkeit in einer sich wandelnden Gesellschaft bestärkten ihn in dem Gefühl, dass Kunst und Leben als Einheit zu sehen waren, dass ein Kunstwerk nicht isoliert entstehen und betrachtet werden durfte.
In der Architektur, in der die verschiedensten Künste in einer Alltagssituation zusammentrafen, kam für Baumeister dieses Denken beispielhaft zum Tragen. Das Zusammenspiel des Malers zu dem Raum, in welchem seine Kunstwerke zu stehen oder zu hängen kamen, hatte für viele eine über das Künstlerische hinausgehende Bedeutung erlangt. Er selbst trug dieser Aufgabe durch seine Zusammenarbeit mit Döcker 1922 und 1924 Rechnung, vor allem aber wenig später durch seine Beteiligung an der Stuttgarter Ausstellung "Die Wohnung" im Jahr 1927 mit der Weißenhofsiedlung.
Das Thema "Mauer" nach 1924
Auch wenn Baumeister die Mauerbilder im engeren Sinne um 1924 wieder aufgab, blieb er dem Thema doch zeitlebens verbunden. Zunächst behielt er die geometrische Strenge bis um 1929/30 bei. Auch der Bezug zur Fläche bestimmte bis zuletzt alle seine Arbeiten. Darüber hinaus schienen in materieller Hinsicht das "Wandhafte" und die "Mauer als Struktur" in vielen späteren Werkphasen immer wieder durch, indem er die Behandlung der Oberflächen etwa mit Sand und Spachtelkitt, Holz oder Folie, oder durch Kammzug und Frottage in einer Vielzahl seiner Gemälde und Grafiken fortführte. Auch Reliefstrukturen setzte er immer wieder ein und entwickelte sie weiter.
Nicht zuletzt machen Bildtitel wie "Steingarten" (1939), "Tempelwand" (1941), "Palast strukturell" (1942), "Linienmauer" (1944), "Figurenmauer aus Gilgamesch" (1945) oder "Blaue Mauer" (1952) deutlich, dass ihm der künstlerische Ansatz der Zwanziger Jahre bis zuletzt ein Leitbild blieb.
Die Mauer gibt ihm [dem Menschen] die Fläche. Die Fläche ist das Urmittel, das erste elementare Mittel der Malerei.